Wie intelligent sind eigentlich Pflanzen?

In der Natur gibt es viele Phänomene, die die Menschheit seit jeher faszinieren. Lange Zeit standen vor allem die Tiere mit ihren erstaunlichen Fähigkeiten wie Sprache, Werkzeuggebrauch und komplexem Sozialverhalten im Fokus der Aufmerksamkeit. Doch in den letzten Jahren rückt zunehmend auch die Pflanzenwelt in den Blickpunkt der Forschung. Doch was ist sind die charakteristischen Lebens-Eigenschaften von Pflanzen und wie sind diese einzuordnen?

Pflanzen gelten traditionell eher als passive Organismen ohne besondere Fähigkeiten. Doch Craig Holdrege, Direktor des „Nature Institute“ in Ghent im US-Bundesstaat New York, ist einer der Forscher, die das anders sehen: „In den letzten zehn Jahren ist eine neue Bewegung in der Biologie entstanden, die Pflanzen intelligentes Verhalten zuschreibt.“ Holdrege beobachtet, dass Begriffe wie Gedächtnis, Entscheidungsfindung und Problemlösung zunehmend auch im Zusammenhang mit Pflanzen verwendet werden. „Früher wäre es in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift undenkbar gewesen, so über Pflanzen zu schreiben“, erklärt er. 

Für Holdrege ist dies Ausdruck eines möglichen Paradigmenwechsels: „Etwas öffnet sich, was vor 50 Jahren noch unmöglich war.“ Gleichzeitig sieht er die Gefahr, dass Pflanzen zu sehr vermenschlicht werden: „Man nimmt Phänomene, die Intelligenz nahelegen, und schreibt dann in einer sehr anthropomorphen, also Menschzentrierten Weise darüber.“ Sein Anliegen in diesem 2023 begonnenen Projekt zur Pflanzenintelligenz ist es, der spezifischen Eigenart der Pflanzen gerecht zu werden, ohne sie vorschnell in uns geläufige Kategorien zu pressen.

Diesem Ansatz folgt auch die gesamte Arbeit des Instituts: Aus Sicht von Holdrege und seinem Team fokussiert sich die Naturwissenschaft zu sehr auf eine Interpretation anhand von abstrakten und tradierten Ideen. Sie habe sich zu sehr aus der Natur ins Labor verlagert – mit all den verschiedenen technischen Hilfsmittel. Trotz aller Erfolge sei diese Herangehensweise zu ein-seitig und erfordere dringend eine ausgleichende, kontextbezogene Perspektive, um ein ganzheitliches Verständnis zu ermöglichen, angelehnt an das Motto von Goethe: „Wir haben uns, wenn wir einigermaßen zum lebendigen Anschauen der Natur gelangen wollen, selbst so beweglich und bildsam zu erhalten, nach dem Beispiel, mit dem sie uns vorgeht.“ 

The Nature Institute

PROJEKTDETAILS

Das Wesen der Pflanzen begreifen

In seinen botanischen Studien geht Holdrege deshalb phänomenologisch vor: „Wir schauen, wie sich die Pflanzen in der Welt zeigen und schauen, ob wir Eigenschaften zu entdecken, die man als Intelligenz bezeichnen könnte.“ Dabei will er ein differenzierteres Verständnis entwickeln, das der Andersartigkeit der Pflanzen Rechnung trägt. Im Vergleich zu Tieren haben Pflanzen etwa kein Nervensystem und bewegen sich nicht fort, sondern wachsen fest verwurzelt in die Welt hinein. Dennoch interagieren sie auf ihre Weise mit der Umwelt und passen sich flexibel an – Eigenschaften, die auch als Ausdruck von Intelligenz gedeutet werden können.

Ein Beispiel dafür ist die Fähigkeit der Pflanzen zur Photosynthese. Aus Licht, Luft und Wasser können sie komplexe organische Substanzen aufbauen und so aus anorganischer Materie lebendige Biomasse erschaffen. Dieses „Zaubern mit dem Licht“, wie es der Biologe Andreas Weber poetisch ausdrückt, ist eine einzigartige Fähigkeit der Pflanzen, die in ihrem spezifischen Sein in der Welt gründet.

Pflanzen zeigen auch erstaunliche Fähigkeiten in ihren Interaktionen mit anderen Organismen. So tauschen Bäume beispielsweise Nährstoffe über ein unterirdisches Netz von Pilzfäden aus, das sogenannte Mykorrhizanetz. Die amerikanische Biologin Suzanne Simard konnte nachweisen, dass Bäume dieses „Wood Wide Web“ nutzen, um gezielt Zucker an ihre Nachkommen oder kranke Artgenossen zu schicken. Pflanzen pflegen also durchaus Formen der gegenseitigen Unterstützung.

Pflanzen sind keine Menschen

The Nature InstituteDoch Holdrege warnt davor, vorschnell Begriffe wie „Entscheidungen treffen“ auf Pflanzen zu übertragen. Die Herausforderung besteht für ihn darin, der spezifischen Intelligenz der Pflanzen gerecht zu werden, ohne sie zu vermenschlichen: „Wir wollen die Dinge in ihrer eigenen Natur erfahren, ohne sie in die gleichen abstrakten Kategorien zu pressen.“

Diesen differenzierten Blick will Holdrege auch in die Erwachsenenbildung einbringen. In Seminaren zum phänomenologischen Ansatz lässt er die Teilnehmer selbst Pflanzen betrachten und beschreiben. So können sie eine neue Wertschätzung für diese Lebewesen entwickeln, ohne vorschnell humane Maßstäbe anzulegen.





Auch in der Wissenschaft sieht Holdrege die Gefahr schablonenhafter Kategorien. Manche Forschende sprechen von Entscheidungen der Pflanzen und meinen damit lediglich komplexe physiologische Anpassungsprozesse. Solche Begriffe suggerieren eine größere Nähe des Pflanzenlebens zu unserem eigenen Erleben, als gerechtfertigt ist. Andererseits gibt es auch dogmatische Materialisten, die Pflanzen jede Form von Intentionalität absprechen.

Holdrege plädiert für einen Mittelweg, der die Andersartigkeit der Pflanzen anerkennt, ohne sie vorschnell zu mechanisieren: „Wir wollen weder einfach kritisieren noch alles in dasselbe Raster pressen. Es geht darum, etwas Positives hervorzubringen und Menschen zu einem differenzierten Verständnis zu verhelfen.“ 

Von der „Grünen Intelligenz“ lernen

Die Beschäftigung mit der Intelligenz der Pflanzenwelt kann auch einen neuen Blick auf uns selbst eröffnen, so Holdrege. „Indem wir die spezifischen Fähigkeiten der Pflanzen würdigen, können wir zugleich die Vorzüge und Probleme des menschlichen Daseins klarer erkennen. Unser abstrakter Intellekt ermöglicht zwar große Kreativität, birgt aber auch die Gefahr zerstörerischen Handelns.“ Im Kontrast zu den fest verwurzelten Pflanzen, die sich bescheiden in den Kreislauf des Lebens einfügen, wird die problematische Seite unseres Freiheitsverständnisses deutlich.

So soll die Erforschung der Pflanzen nicht nur dabei helfen, ihre Intelligenz unvoreingenommen wahrzunehmen, sondern auch den menschlichen Geist zu erweitern und Potenziale in ihm zu entfalten, die jenseits engstirniger Selbstbezogenheit liegen. Unter diesem Blickwinkel erscheint die neu entstandene Aufmerksamkeit für die „grüne Intelligenz“ der Pflanzen als vielversprechender Ansatz für ein tieferes Verständnis der Natur – und unseres Platzes in ihr.