So viel Leben wie möglich

Palliativmedizin ist – entgegen der landläufigen Wahrnehmung – keine reine Sterbebegleitung. Vielmehr steht in ihrem Fokus, dem Leben von unheilbar kranken Menschen Qualität zu geben, so lange wie möglich. An der Filderklinik in Filderstadt-Bonlanden setzen Ärztinnen, Ärzte und Pflegende neben den Therapien aus den medizinischen Leitlinien auch auf Maßnahmen der Integrativen Medizin – und auf eine besondere „Haltung“.

„Stellen Sie sich einen Patienten vor, bei dem im Rahmen einer Darmspiegelung Dickdarmkrebs mit Metastasen in der Leber diagnostiziert wurde. Er hat bisher von seinem Tumor noch nichts gemerkt, ist in gutem Zustand und geht regelmäßig joggen. In diesem Moment ist der Krebs aber nicht mehr heilbar“, sagt Dr. med. Stefan Hiller, Ärztlicher Direktor und Chefarzt des Zentrums für Integrative Onkologie und Palliativmedizin. „Aus diesem Grund ist der Mann ein Palliativpatient, obwohl er in nächster Zeit noch nicht ans Sterben denken muss. Was wir als Palliativmediziner tun ist: den Erkrankten mit möglichst guter Lebensqualität ein Leben mit einer unheilbaren Erkrankung zu ermöglichen. Dabei geht es also um Lebensdauer gepaart mit Lebensqualität.“ Je nach Stadium der Krankheit steht das eine oder das andere im Vordergrund. Im Anfangsstadium geht es vor allem darum, den Tumor durch eine Operation zu entfernen oder mithilfe von Chemo-, Strahlen[1]oder Immuntherapie zu verkleinern und seine weitere Ausbreitung im Körper zu hemmen, um so dem Menschen ein Mehr an Lebenszeit zu ermöglichen. Sobald die Metastasierung voranschreitet und/oder die Symptomlast zunimmt, gilt es, diese Symptome zu behandeln, zum Beispiel durch Schmerztherapie. Hier spielt dann die Lebensqualität eine wichtigere Rolle und nicht unbedingt die Lebenszeit. „Erst in der letzten Krankheitsphase hat das Sterben im engeren Sinne begonnen“, so Stefan Hiller, „das findet dann eher in einem Hospiz oder zu Hause statt und der Fokus ist weniger medizinisch ausgerichtet, sondern liegt eher auf dem Abschied - nehmen – auch für die Angehörigen.“

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„Es geht einfach um Lebensdauer gepaart mit Lebensqualität."

Dr. med. Stefan Hiller
 

Den Menschen als Ganzes sehen

Auf der Palliativstation der Filderklinik liegen zu 80 Prozent Krebspatientinnen und -patienten, aber auch Menschen mit schweren Nerven-, Lungen- oder Herzerkrankungen wie amyotrophe Lateralsklerose, Chronic Obstructive Pulmonary Disease (COPD) oder Kardiomyopathie. „Aus diesem Grund arbeiten wir Palliativmedizinerinnen und -mediziner interdisziplinär“, erläutert Dr. med. Eva-Marie Braun, die zuständige Oberärztin der Palliativstation an der Filderklinik. „Das heißt, dass wir uns mit den Fachabteilungen, genauso wie mit Pflege sowie Therapeutinnen und Therapeuten, täglich ab - stimmen, um die optimalen Therapieoptionen für jeden Einzelfall abzuwägen.“ Gerade diese Interdisziplinarität macht die Palliativmedizin zu einem besonders spannen - den Fach haben.

Mehr Lebensqualität durch Integrative Medizin

Neben der regulären medizinischen Versorgung kommen an der Filderklinik auch zahlreiche Therapieansätze aus der Integrativen – insbesondere der Anthroposophischen – Medizin zum Einsatz. Also Maßnahmen, die ergänzend und unterstützend zur sogenannten schulmedizinischen Arbeitsweise sind und vor allem darauf abzielen, Nebenwirkungen abzumildern und Lebensqualität zu schenken. So lindern pflanzliche Arzneimittel aus der Mistel zum Beispiel nachweislich chronische Erschöpfung (Fatigue), sie stärken die Abwehrkräfte und wirken stimmungsaufhellend und sind daher Bestandteil der Leitlinie für Komplementärmedizin bei der Behandlung onkologischer Patientinnen und Patienten. Ein ganz wesentlicher Bestandteil der palliativen Versorgung erfolgt durch die Pflege. Elke Kaschdailewitsch arbeitet seit 40 Jahren in der Pflege und ist seit vielen Jahren als onkologische Pflegefachkraft und anthroposophische Pflegeexpertin (IFAN) im Team der Palliativ[1]pflegenden an der Filderklinik tätig. Den Mehrwert der Pflege beschreibt sie wie folgt: „Es gibt eine Reihe von äußeren Anwendungen, die sowohl pflegerischen Charakter haben als auch prophylaktisch-therapeutischen. Dazu gehören Einreibungen, Wickel, Kompressen oder Fußbäder mit medizinischen, in der Regel natürlichen Substanzen. Diese wirken über die Haut auf den Organismus, gleichzeitig hat aber auch die Anwendung selbst einen Effekt, denn die Patientinnen und Patienten er[1]fahren so ein gewisses Maß an Zuwendung. Eine Fußeinreibung mit Rosmarinöl bei Menschen, die nicht mehr laufen können, ist für viele ein bisschen wie Auf[1]stehen, sie lässt einen die Füße spüren, durchwärmt und entspannt.“ Die Hinwendung zum Körper hilft vielen auch, ruhiger zu werden und ihre Angst abzubauen. Elke Kaschdailewitsch berichtet von Patientinnen und Patienten, deren psychosomatische Schmerzen mit Herz-Salbenauflagen gelindert werden und von Baucheinreibungen bei Verdauungsbeschwerden. Anwendungen, die Wärme schenken und den Wärmehaushalt verbessern, seien von besonderer Bedeutung bei einer Krebserkrankung, zum Beispiel Schafgarben- oder Ingwerwickel. „Wichtig sind für uns das Erarbeiten der Pflegeziele und die Ziele der Menschen. Wir besprechen jeden Tag im multiprofessionellen Team und mit den Patientinnen und Patienten: „Wo ist unser gemeinsames Ziel? Wo muss es denn für den Menschen hingehen? Was braucht er? Was kann man für ihn tun? Was ist realistisch?‘“, so die Pflegeexpertin.

Eine Haltung, die spürbar ist

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Das Team der Palliativstation zeichnet sich durch eine besondere Haltung gegenüber unheilbar Kranken Patientinnen und Patienten aus.

Das Wichtigste auf der Palliativstation und somit auch an der Filderklinik ist aber, da sind sich Ärztinnen, Ärzte und Pflegende einig, die innere Haltung gegenüber den Erkrankten. Stefan Hiller fasst es so zusammen: „Die Menschen, die hier in der Palliativmedizin arbeiten, haben eine besondere Haltung gegenüber dem Patienten in seiner Krankheitssituation. Und das ist etwas, was der Patient merkt, was auch ein ganz wichtiges Element der anthroposophischen Palliativmedizin ist: die Haltung einerseits dem Patienten und seiner Erkrankung gegen[1]über und andererseits aber auch seinem Sterbeprozess gegenüber. Im Grunde genommen wollen wir einen besonderen Umgang mit dem Lebensende ermöglichen.“ Und so gibt es die besondere Tradition an der Filderklinik, dass jede und jeder Verstorbene vom betreuende Team verabschiedet wird und dass einmal im Jahr ein Totengedenken stattfindet. Für Elke Kaschdailewitsch ist das nicht nur für die Angehörigen eine würdevolle Form des Abschieds, sondern auch für die Mitarbeitenden: „Und wenn Sie dabei sind, bei der Verabschiedung, und sehen sich diese Menschen an und stellen fest, dass es ja einfach auch eine Form von Erlösung, des Heilwerdens ist, und wenn Sie sehen, wie das alles im Grunde genommen dann in die Ruhe übergehen kann, dann können Sie daraus auch Kraft schöpfen …“

Mehr Informationen unter: www.filderklinik.de/medizin/palliativmedizin