(Waldorf-)Pädagogik – Quo vadis?

In vielen Ländern herrscht Lehrermangel, nicht nur an Waldorfschulen. In Berlin werden inzwischen Lehrkräfte von Waldorfschulen abgeworben, mit der Verheißung einer verbeamteten Stelle. Die Konkurrenz zwischen freien und staatlichen Trägern im Bildungswesen wird weiter wachsen.

Im Rahmen unseres Stiftungsplenums mit den Gesellschaftern und Mitgliedern des Beraterkreises der MAHLE-STIFTUNG Anfang Mai hat Nana Göbel diese und viele andere Einblicke in das aktuelle Geschehen im Bereich der Pädagogik mit uns geteilt. Ihren spannenden Bericht möchten wir Ihnen nicht vorenthalten.
 

Nana Göbel ist Archäologin, Bankerin und Non-Profit-Unternehmerin. Sie ist außerdem geschäftsführender Vorstand der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners e.V., Berlin und seit 2019 im Beraterkreis der MAHLE-STIFTUNG.

 

Beitrag von Nana Göbel zur Situation der Waldorfschulen im weltweiten Kontext während des Stiftungsplenums am 8. Mai 2023 in Stuttgart.

Als ich einige wenige Tage vor der Sitzung des Stiftungsrates gefragt wurde, einen Beitrag zur Situation der Waldorfschulen zu geben, entschloss ich mich einige wenige Fragestellungen abzuarbeiten und einige Beispiele zu erwähnen, ohne irgendeinen Anspruch auf Vollkommenheit, ohne einen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit und ganz sicher subjektiv, das bedeutet auf meinen Erfahrungen gegründet.

Schulgebäude
In den allermeisten Ländern erfordern die klimatischen Verhältnisse, dass Unterricht in Innenräumen abgehalten wird. Entweder es ist zu heiß oder zu kalt, es regnet oder schneit, der Wind pfeift oder der Lärm der Stadt ist so stark, dass Unterricht im Freien nicht möglich ist. Es braucht also Schulgebäude und die sind genauso wie die Schulgrundstücke in der Regel sehr teuer. Eine erste große Herausforderung für den Aufbau freier Schulen. Unabhängig davon kann Unterricht – auch der Waldorfschulen – natürlich in den verschiedensten Räumen gegeben werden. Schulgebäude können sehr unterschiedlich sein. Es gibt einfache Holzgebäude auf Stelzen zum Beispiel in Thailand und auf den Philippinen, es gibt solide Betonburgen, es gibt Jurten sogar in Spanien, traditionelle Häuser, modernes Design, Versuche mit den unterschiedlichsten Materialien (zum Beispiel Lehmbau), einfache und hoch-komplexe Schulgebäude, gemütliche und einladende Häuser … also eine große Vielfalt.

Wirtschaftliche Lage der Schulen 
Genauso verschieden wie die Gebäude ist die wirtschaftliche Lage der einzelnen Schulen. Und die wirtschaftliche Lage einer Schule beeinflusst das, was die Lehrer in der Schule machen bzw. zu machen bereit sind, - unmittelbar. In einigen Ländern Europas sind die Waldorfschulen vergleichsweise gut ausgestattet, können also Gehälter zahlen, die den Gehältern an staatlichen Schulen entsprechen, wenn auch nicht an jedem Gymnasium in jedem Bundesland. In den skandinavischen Ländern (Finnland, Schweden, Dänemark, Island und Norwegen), in den Niederlanden und in Belgien, in Deutschland und in einigen mittel-osteuropäischen Staaten (Baltische Staaten, Tschechische Republik, Slowenien, Ungarn, Rumänien, Moldawien, Ukraine und Russland) werden Waldorfschulen, wenn sie es wollen, vom Staat subventioniert. Unterschiedlich subventioniert. In Norwegen und Schweden sind schon mal 100 % möglich, in Deutschland in der Regel 75 % der laufenden Kosten, in Ungarn nur um 50 % der laufenden Kosten. Außerhalb Europas gibt es staatliche Finanzierung nur in Neuseeland, in einigen Bundesstaaten Australiens, auf Taiwan und für die Public Waldorf Schools in den USA und in Canada (Charter-Schools). Alle anderen Waldorfschulen können nur so viel Geld ausgeben, wie sie an Schulgebühren von den Eltern erhalten. Sie sind ausschließlich von dem abhängig, was Eltern aufbringen können. Und die Folgen werden zu allermeist auf den Schultern der Lehrerinnen ausgetragen, denn sie arbeiten zu Bedingungen, zu denen in den Ländern mit Subventionen kein Mensch arbeiten würde. In vielen Ländern sind Waldorflehrer also Überzeugungstäter und nehmen Einschränkungen für das persönliche Leben in Kauf.

Aufgrund dieser rechtlichen Gegebenheiten, d.h., dass es in einigen Ländern Anspruch auf Subventionen gibt, in den meisten anderen Ländern aber nicht, können im Prinzip Menschen unterschiedlicher Schichten ihre Kinder auf eine Waldorfschule schicken – oder eben nicht. Wer in Deutschland oder Belgien wohnt und nicht viel Geld verdient, kann seine Kinder trotzdem auf die Waldorfschule schicken, nicht aber eine Familie, die in Frankreich oder England oder Polen wohnt. Die unterschiedlichen rechtlichen Gegebenheiten führen also dazu, dass die Waldorfschulen in einigen Ländern exklusive Schulen für die obere Mittelschicht sind, in anderen offen für alle. Hier liegt eine große Aufgabe, für mehr Zugänglichkeit im Bildungswesen zu kämpfen. In allen Ländern ohne staatliche Subventionen müssen die Schulen hoch motiviert sein und eine besonders gute Qualität liefern, sonst werden zu wenige Kinder angemeldet und die Schule geht ein. Diese unternehmerische Qualität kann auch von Vorteil sein.

Ausnahmen sind diejenigen Waldorfschulen, die für ökonomisch benachteiligte Kinder eröffnet worden sind, wie die Zenzeleni-Waldorfschule in Khayelitsha, Südafrika, die Goderich School in Rokel, Sierra Leone, die Mbagathi Steiner School in Nairobi, die Escuela El Caracol in San Marcos La Laguna, Guatemala, usw. … . Alle diese Schulen werden nur so lange existieren, wie es Spenderinnen und Spender vor allem in Deutschland gibt, denen das Überleben dieser Schulen am Herzen liegt. Das ist kein sicherer, sondern ein schwankender, risikobehafteter Boden. Und er bringt Organisationen wie die Freunde der Erziehungskunst und ihre Aktion Bildungspatenschaften in eine besondere Verpflichtung.

Für all die Schulen, die durch Geld aus Europa am Leben erhalten werden, müssen wir sozusagen Spenden empfangen, um das den armen Eltern gegenüber ausgesprochene Versprechen aufrecht zu erhalten. Wir sind nicht mehr frei. Und das, obwohl es in all diesen Ländern Eliten gibt, die eine solche Schule aus der Westentasche finanzieren könnten. Es sind große Beziehungsaufgaben für die Zukunft.

Rechtliche Gestaltung von Schulen in freier Trägerschaft
Von Beginn an sind Waldorfschulen rechtlich so gestaltet, dass sie gemeinschaftlich geführt und getragen werden können. Unter- und Überordnungen sollten, so der Impuls, zugunsten gemeinsamer Verantwortung aufgegeben werden. Während junge Schulen alles daransetzen, diesen Impuls aufrecht zu erhalten, verschwindet er bei gediegenen, alten Schulen, wo oft Direktoren eingesetzt werden (zum Beispiel in den Niederlanden, in Rumänien, Ukraine oder Russland), die alles bestimmen, oder mächtige Geschäftsführer. Geblieben ist die Bedingung, dass alle Waldorfschulen non-profit Organisationen sein sollen, so dass die Eigentümer keine Profite aus der Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer erwirtschaften können. Sollte es, wie zum Beispiel in Vietnam, aufgrund der rechtlichen Rahmenbedingungen notwendig sein, die Schulen durch eine education company, oft eine GmbH oder eine AG, zu betreiben, dann müssen die Schulen für ihre Waldorfanerkennung nachweisen, dass eventuell entstehende Profite nicht in den Taschen der Financiers landen.

Sozialstruktur
Wie oben schon erwähnt, gibt es eine generelle Müdigkeit gegenüber der Selbstverwaltung, da diese oft in einer Art und Weise betrieben wird, die Kräfte auszehrt und nicht Kräfte schafft. Alle missverstandenen Formen der Selbstverwaltung führten schließlich dazu, dass es kaum mehr Raum für die Ideen gibt, die eigentlich damit verbunden waren. Einzelne Menschen, zum Beispiel Geschäftsführer oder Direktoren, oder Kleinstgruppen regeln inzwischen in vielen Schulen die Verwaltungs-Aufgaben und die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. In manchen Ländern liegt sogar die Wahl neuer Kollegen bei den Direktoren, so dass die Bildung eines Kollegiums in den Händen einer Einzelperson liegt und nicht mehr in den Händen des Kollegiums. Dadurch entstehen ganz andere Sozialformen, andere Umgangsweisen - bis hin zur Angst. Es gibt aber auch aufmunternde Entwicklungen, so etwa neue Formen der Zusammenarbeit im Team-Teaching oder bei geteilter Führungsverantwortung.

Dort, wo Selbstverwaltung heute noch gelingt, gibt es eine große und für alle zugängliche Transparenz, werden bei der Übernahme von Verantwortung auch die Entscheidungskompetenzen übertragen, werden Aufgaben auf Zeit übernommen und wird das seelische Klima sehr bewusst gepflegt.

Die weltweit auftretende Sehnsucht nach einer viel größeren Abgrenzung zwischen Arbeits- und Privatleben führt heute mancherorts zu einer Partikularisierung, die zum Beispiel in Lateinamerika noch nicht in dem Masse sichtbar ist, wie in Mitteleuropa. Da gleichzeitig ganz neue Aufgaben auf Schulen zukommen und sie an vielen Orten, gerade in den Riesenstädten, den Ersatz für familiäres Sozialleben schaffen müssen, stehen sich zwei Tendenzen gegenüber, die nicht so einfach aufzulösen sind: die Sehnsucht nach mehr Privatheit und Selbstbestimmung über die eigenen Arbeitszeiten und andererseits ein neues soziales Miteinander unabhängig von Familienbanden, das nur dann funktioniert, wenn Menschen sich mit Überschusskraft füreinander einsetzen und miteinander gestalten.

Elternschaft an Waldorfschulen
Unabhängig vom Standort kommen die Eltern an Waldorfschulen tendenziell aus der mittleren und oberen Mittelschicht; sie sind gebildet, interessanterweise zum Beispiel Lehrer an staatlichen Schulen oder Unternehmer, also ziemlich verschieden, gesellschaftlich aufgeschlossen und eher liberal gestimmt. Am deutlichsten sieht man das in Ländern, die nicht gerade für liberale Regierungen bekannt sind. Dort gibt es einen deutlichen Wachstumsschub für Waldorfschulen. Überhaupt ist die Elternschaft in Ländern ohne staatliche Finanzierung viel engagierter als etwa in den Niederlanden, Schweden oder Deutschland, denn ohne die Aktivität der Eltern gäbe es keine Waldorfschulen. So sind zum Beispiel in den letzten zehn Jahren alle neuen Waldorfschulen in Argentinien und im südlichen Chile von Eltern gegründet worden. Sie wollen ihre Kinder in eine andere Schule schicken! Und weil sie dann keine Lehrerinnen und Lehrer finden, nehmen sie an Ausbildungen teil und werden selbst Lehrer. Solches Engagement findet sich in Nord-, West- und Mitteleuropa kaum mehr.

Lehrerinnen und Lehrer
Weltweit fehlen Lehrerinnen und Lehrer an Waldorfschulen. Das ist wohl das wichtigste gemeinsame Phänomen – und zwar unabhängig von Bezahlung, Reputation etc. In Ländern ohne staatliche Finanzierung muss aber eine viel grundlegendere Entscheidung getroffen werden, wenn jemand Waldorflehrer werden will. Die Gehälter sind in diesen Ländern in der Regel so niedrig, dass man entweder bereit ist, ein Klosterleben zu führen oder eine besser verdienende Partnerin hat. Daher hat die Entscheidung in diesen Ländern sehr viel mit der inneren Überzeugung zu tun, denn nur für die eigene Überzeugung bin ich in der Regel bereit, Opfer auf mich zu nehmen. In den Ländern mit staatlicher Finanzierung gibt es sowohl Waldorflehrerinnen und Waldorflehrer als auch Lehrerinnen und Lehrer an Waldorfschulen. Die Schüler unterscheiden diese beiden Lehrer-Typen scharf. Sie wissen ganz genau, wer Lehrer an einer Waldorfschule ist und wer Waldorflehrer ist. Überhaupt sind die Schüler die besten Evaluatoren.

Insgesamt allerdings muss sich Grundlegendes ändern. Lehrerinnen und Lehrer fehlen ja nicht nur an Waldorfschulen, sondern auch im staatlichen Bildungswesen. In Berlin etwa werden Waldorflehrer damit gelockt, dass ihnen verbeamtete Stellen angeboten werden. Die Konkurrenz zwischen staatlichen und freien Trägern wird weiter wachsen. Um den Kollaps zu vermeiden, braucht es eine ganz andere gesellschaftliche Anerkennung des Lehrerberufs (und das gilt ebenso für viele andere Berufe, zB die Krankenpflege, die Altenpflege, überhaupt medizinische Berufe, …). Finnland hat wieder einmal vorgemacht, wie dieser Paradigmenwechsel zu erreichen ist. Nur wer die besten Noten vorweist, kann dort einen Studienplatz für Lehrpersonen erhalten, wer das Studium erfolgreich absolviert, den erwarten hohe Gehälter und eine große gesellschaftliche Wertschätzung. Seitdem melden sich die besten zum Lehramtsstudium.

Herausforderungen für Waldorfpädagogik
Zwischen den einzelnen Schulen gibt es große Unterschiede; es gibt große und kleine, lebendige und langweilige, betriebsame und schläfrige, innovative und behäbige Schulen. Es gibt Schulen mit der Stimmung: wir wissen wie es geht und wir machen alles so, wie wir es immer gemacht haben. Und es gibt Schulen, in denen ausprobiert wird, in denen nicht alles funktioniert und die selber lernen. Es ist schon klar, in welchen Schulen junge Lehrerinnen und Lehrer lieber arbeiten wollen. Die Kernfrage ist also, welche Schulen Erneuerungskräfte in sich tragen und welche nicht, welche Schulen entsprechend anziehend sind oder eben nicht. Ein Indikator für diese Bewertungen sind Wartelisten. Aufgrund der demographischen Entwicklung gibt es in vielen Industrieländern weniger Kinder, also auch weniger Anmeldungen. Schulen aber, die trotzdem lange Wartelisten haben, werden ob ihrer Ausstrahlung gewählt.

Bekanntlich gibt es viele Herausforderungen: die Arbeit mit den kleinen und kleinsten Kindern, die Digitalisierung und Medienpädagogik, eine neue Lust auf Bewegungsfächer zu wecken, wenigstens in der Schule verlässliche Beziehungen aufzubauen etc. Für die Waldorfschulen spielen alle diese Herausforderungen eine große Rolle. Für den künftigen Erfolg der Waldorfpädagogik wird aber die Qualität in den Oberstufen ausschlaggebend sein. Der Erfolg einer schulischen Bildungslaufbahn zeigt sich letztendlich in der Oberstufe. Und wenn diese nicht im Stoff, in den Fächern – zum Beispiel in der Literatur, in der Geschichte, in der Biologie, Anthropologie, Ökologie - die tieferen Fragen der Schülerinnen und Schüler aufsucht und wenn sie nicht in der Lage ist, den Sinnzusammenhang sichtbar zu machen, werden die Schüler gehen und ihr Examen an einer Schule ablegen, die dazu da ist, gute Examensergebnisse zu liefern. Es gibt also eine Menge zu tun.

Hier der Beitrag zum Download.

Homepage der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners e.V.